Ein Artikel von Dr. Iris Mackensen-Friedrichs
– oder warum Erziehung und Tierschutz kein Widerspruch ist
Es ist kein Geheimnis, dass unsere Tierheime am Kapazitätslimit angekommen sind. Teilweise stehen über 60 Hunde und mehr auf den Wartelisten für die Aufnahme! Die Ursachen für diesen Zustand sind vielfältig: Neben erhöhten Kosten in allen Lebensbereichen, Verteuerungen bei der tierärztlichen Versorgung und ungünstigen Hund-Halter:innen-Konstellationen ist eine weitere Ursache bekanntermaßen, dass Hunde auffälliges Aggressions- oder Jagdverhalten zeigen und sie deshalb abgegeben werden.
Im folgenden Artikel möchte ich den Fokus auf diese auffällig gewordenen Hunde legen, um einen Weg aufzuzeigen, wie zumindest die Anzahl dieser Hunde in den Tierheimen in Zukunft reduziert werden könnte. Gespräche mit Fachkolleginnen und -kollegen aus den Tierheimen bestätigen den Eindruck, dass viele solcher auffällig gewordenen Hunde wenig bis gar nicht erzogen wurden. Einige dieser Hunde zeigen sich schlichtweg unbegrenzt, haben keine Frustrationstoleranz und Impulskontrolle. An diesem Punkt möchte ich ansetzen und die Begriffe Frustrationstoleranz, Erziehung, Impulskontrolle und die dafür nötige Bindung näher erläutern.
Was versteht man unter Erziehung und warum müssen Hunde überhaupt erzogen werden?
Ausgehend von einer biologischen Sichtweise, stellt man fest, dass Hunde in vielen Belangen mit uns übereinstimmen: Wie wir Menschen sind auch sie hoch soziale Lebewesen, in der Literatur werden sie sogar als hypersozial bezeichnet (VonHoldt et al., 2017, 2018). Wie wir brauchen auch sie einen strukturierten Sozialverband und verlässliche Bindungspartner:innen. Allgemein ist über Strukturen im Sozialverband bekannt, dass in klaren Strukturen weder ein hoher noch ein niedriger Status zu Belastungen innerhalb des Sozialverbands führen. Das Gegenteil ist der Fall: klare Strukturen führen zu einer geringeren Belastung aller. Die Vorhersehbarkeit sozialen Geschehens scheint die Voraussetzung dafür zu sein, dass es den Tieren im stabilen sozialen System gut geht (Sachser, 2018). Im Vergleich zu ihrer Stammform Wolf haben Hunde zudem eine stärkere Neigung dazu, Regeln zu befolgen und Konflikte zu vermeiden.
Mittlerweile gibt es zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse, die eindeutig darauf hinweisen, dass Menschen für Hunde als Sozialpartner:innen agieren können und sich eine Beziehung zwischen Mensch und Hund ausbilden kann (u. a. Stoeckel et al., 2014, Feuerbacher & Wynne, 2017).
Diese Erkenntnisse haben Folgen, was den Umgang mit unseren Hunden betrifft: Um gut im Leben zurechtzukommen, benötigen Hunde, ähnlich wie Kinder, eine möglichst sichere Bindung, resultierend aus verlässlichen, wohlwollenden Bezugspersonen und angemessener Erziehung.
Unter Erziehung wird hierbei die pädagogische Einflussnahme auf die Entwicklung und das Verhalten heranwachsender Hunde verstanden, um diese gut in unseren Alltag und unser Leben zu integrieren. Eine so oft propagierte reine „Dressur“ (klassische Beschäftigungsübungen, wie „Tricks lernen“), auf die ich später zu sprechen komme, reicht hingegen nicht aus, einen Hund auf ein hundegerechtes Leben mit uns vorzubereiten.
Der Mensch als sicherer Bindungspartner.
Eine Fähigkeit zur sicheren Bindung entsteht bei Hunden bereits im frühen Lebensalter (Lezama-García et al., 2019), wenn die Welpen von der Mutterhündin gut versorgt und umsorgt werden. Später wird die sichere Bindung optimalerweise von anderen erwachsenen Hunden bei der Erziehung dadurch unterstützt, dass den Welpen Erkundungsverhalten und Spielverhalten ermöglicht wird, aber gleichzeitig eine sichere Basis zur Verfügung steht. Die sichere Basis sorgt dafür, dass sich Welpen bei moderat unangenehmen, stressigen Momenten, die zu einem normalen Leben dazugehören, bei der Mutterhündin, einem anderen erwachsenen Hund oder ihrem Menschen rückversichern und darüber Ermutigung, Schutz oder Trost finden können. Indem sie bereits im Welpenalter lernen, mit moderat stressigen Momentan umzugehen, werden sie optimal auf das spätere Leben vorbereitet.
Durch diese Erfahrungen erleben die Welpen schon eine „Art“ Erziehung, da Grenzen aufgezeigt und durchgesetzt werden. Wer schon einmal erwachsene Hunde im Umgang mit Welpen in seinem Haushalt beobachten durfte, kann bestätigen, wie duldsam, tolerant und liebevoll viele erwachsene Hunde die meiste Zeit mit den Kleinen umgehen, solange diese es nicht übertreiben.
Gute Mutterhündinnen setzen ihren Welpen individuell angepasste Grenzen und gewähren individuell angemessene Autonomie, woraus eine sichere Bindung resultiert.
Übertreiben es die Kleinen jedoch, zeigen erwachsene Tiere in entsprechenden Situationen den Welpen gegenüber Verhaltensweisen wie körperliches Bedrohen, über die Schnauze beißen, Abschütteln, Knurren und Weggehen. Solche Situationen können z. B. entstehen, wenn ein Welpe zu heftig im Spiel wurde, wenn er sich an Spielzeug, Futter oder Kauartikel des erwachsenen Hundes bedient, oder wenn er einen erwachsenen Hund beim Ruhen stört. Ebenso ist zu beobachten, dass die Welpen nach der Maßregelung keineswegs in die erlernte Hilflosigkeit (s. CANIS-Artikel "Stress bei Hunden") fallen, Angst vor dem erwachsenen Hund zeigen oder anderweitige Verhaltensauffälligkeiten an den Tag legen. Warum? Weil es sich um ganz normale Lernsituationen handelt, in denen ein Welpe Kommunikation lernt und versteht, Grenzen zu akzeptieren und einzuhalten. Das Ganze ist ein normaler, bei Wildcaniden überlebenswichtiger Vorgang. Dadurch wird ein Grundstein für die so wichtige Frustrationstoleranz gelegt, die ich im weiteren Verlauf erläutern werde: Welpen lernen es auszuhalten und zu akzeptieren, dass ein erwachsener Hund gerade nicht mit ihnen spielen will und einfach ruhen möchte. Ebenso wird hierbei ein Grundstein für die Impulskontrolle gelegt, die ich ebenfalls im weiteren Verlauf noch erläutern werde: Über die positive Bestrafung (s. CANIS-Artikel "Belohnung und Bestrafung") des erwachsenen Hundes lernen Welpen z.B., sich nicht am Futter oder Kauknochen des älteren Hundes ungefragt zu bedienen. Sind die Erziehungsmaßnahmen der erwachsenen Hunde verlässlich und gut an den Welpen angepasst – also nicht zu hart und nicht zu weich – kann der Welpe verstehen, worum es geht. Nach wie vor wird er den erwachsenen Hund als sichere, verlässliche Basis sehen.
Vergleicht man diesen Erziehungsstil mit den verschiedenen Stilen in der Kindererziehung (siehe z. B. Berk, 2011), kommt dieser dem autoritativen Erziehungsstil am nächsten, der bei den meisten Kindern am erfolgreichsten ist. Der autoritative Erziehungsstil stellt dabei einen Mittelweg zwischen der autoritären (Grenzen ohne Freiheit) und der permissiven (laissez-fair) Erziehung (Freiheit ohne Grenzen) dar. Der autoritative Erziehungsstil zeichnet sich durch klare Regeln und deren Umsetzung aus mit gleichzeitiger Bereitstellung von viel Fürsorge, Wärme und Unterstützung für den zu Erziehenden. Grenzen und Regeln werden dabei flexibel dem individuellen Entwicklungsprozess und den jeweiligen Situationen angepasst. Dabei wird das Kind in seiner Persönlichkeit akzeptiert und verstanden sowie mit seinen Wünschen und Bedürfnissen angenommen. Was aber nicht bedeutet, dass alle Wünsche und Bedürfnisse immer und sofort erfüllt werden! Dieser Erziehungsstil fördert nachweislich die sozialen Kompetenzen und die Selbstständigkeit der Kinder sowie deren Fähigkeit, sich nach und nach in die Strukturen und Hierarchien der Gesellschaft einzufinden.
Das Gleiche scheint auch bei der Erziehung von Hunden der Fall zu sein. Neuere Forschungen geben zahlreiche Hinweise darauf, dass der autoritative Erziehungsstil auch bei der Erziehung unserer Hunde meistens am erfolgreichsten ist. Die Untersuchungen zeigen, dass Hunde, die autoritativ erzogen wurden, ihren Menschen als sichere Basis ansehen, sich sozialer gegenüber anderen Hunden und Menschen verhalten, sensibler auf den sozialen Kontext reagieren und länger und erfolgreicher an Problemlöseaufgaben dranbleiben im Vergleich zu Hunden, die eher autoritär oder permissiv erzogen wurden (Brubaker & Udell, 2022). Bestrafungen im lerntheoretischen Sinn werden im Rahmen der autoritativen Erziehung genutzt, um Grenzen zu setzen und durchzusetzen. Vom Hund werden sie dann als Lernsituation verstanden, wenn die Bestrafungen individuell an den jeweiligen Hund angepasst und verhältnismäßig und infolgedessen für den Hund vorhersehbar sind. So zeigte sich auch in einer Untersuchung zum autoritativen Erziehungsstil in der Hundeerziehung ein schwach positiver Zusammenhang, wenn auch nicht signifikant, bezüglich des Bindungsverhaltens der Hunde an ihre Menschen, die mit gelegentlicher Bestrafung arbeiten (Volsche & Gray 2016). Ergebnisse wie diese zeigen, dass das Thema komplexer ist als gedacht: Bestrafungen sind nicht grundsätzlich schlecht oder beeinträchtigen das Wohlbefinden der Hunde sowie ihr Vertrauen in ihren Menschen dauerhaft negativ.
Doch die Erziehung von Hunden in diesem wohlwollenden Sinn findet leider anscheinend immer weniger statt. Stattdessen wird versucht, Hunde über Dressur auf das Leben mit uns vorzubereiten. Unter Dressur wird das Ausbilden bzw. Trainieren von Verhaltensweisen zu einem bestimmten Zweck verstanden. So ist das Trainieren von Verhaltensweisen z. B. für das Apportieren, das Obedience, das Dogdancing oder eine Begleithundeprüfung in erster Linie Dressur. Ohne Frage kann eine gut gemachte Dressur, in der ein Hund möglichst ausschließlich über positive Belohnung und negative Bestrafung (s. CANIS-Artikel "Belohnung und Bestrafung") trainiert wird, wunderbar dazu genutzt werden, Hunde zu beschäftigen und auszulasten, was sowohl Hund als auch Mensch viel Freude machen kann. Und ohne Frage wird eine gut gemachte Dressur auch die Mensch-Hund-Beziehung positiv beeinflussen können. Aber all das reicht nicht aus, den Grundstein für eine Beziehung zu legen, in der der Mensch die sichere Basis für seinen Hund darstellt, und Dressur ersetzt schlichtweg nicht die Erziehung. Eine verlässliche Mensch-Hund-Beziehung ist die Basis für ein entspanntes Miteinander, eine gut gemachte Dressur eine wunderbare Ergänzung dazu.
Gut gemachte Dressur macht vielen Hunden und Menschen Spaß, ist aber nicht der Schlüssel zu einer sicheren Mensch-Hund-Beziehung.
Wie bereits erwähnt, ist das Erlernen von Frustrationstoleranz und Impulskontrolle ein wichtiger Bestandteil einer guten Erziehung, die dem Hund dazu dient, souverän im Leben klarzukommen.
Hunde erleben auf vielerlei Arten Frustration: wenn sie als Welpe einmal nicht in der Welpengruppe mitspielen dürfen, ein Labrador nicht an die Fleischwurst kommt oder ein Schweißhund daran gehindert wird, einer verlockenden Wildfährte nachzugehen. Frustration ist nach LeDoux (1998) eine Emotion, die sich wie Wut aus der Basisemotion Ärger ableitet (LeDoux, 1998). Frustration wird demnach ausschließlich mit negativen (oder unangenehmen) Empfindungen verbunden (Windscheid, 2022). Frustration tritt folglich auf, wenn das Erreichen eines Ziels oder die Befriedigung eines Bedürfnisses behindert wird. Sie stellt einen unlustvoll erlebten Zustand dar, der mit der Motivation einhergeht, ihn zu beenden oder zu mildern (Wirtz, 2020). Auch wir kennen dieses Gefühl der Frustration nur zu gut, denn es begleitet uns unser Leben lang, mal mehr und mal weniger. So war es mit Sicherheit für viele von uns frustrierend, als aufgrund der Corona-Pandemie der Urlaub ausgefallen ist, der runde Geburtstag nicht in großer Runde gefeiert werden durfte oder das Konzert der Lieblingsband abgesagt wurde. Aber auch kleinere Dinge, die mehr oder weniger zu unserem Alltag dazu gehören, können Frustration auslösen: ein bestimmtes Paar Schuhe ist zu teuer, die Lieblingseisdiele hat schon geschlossen oder der Anschlusszug wird nicht erreicht. Durften wir von klein auf lernen, diese unangenehmen Gefühle auch einmal auszuhalten, fällt es uns später leichter, mit solchen Frustrationen umzugehen und nicht etwa mit unangemessenen Aggressionsverhalten zu reagieren (Berk, 2011; Maas, 2021).
Ebenso verhält es sich bei unseren Hunden. Um auf das Leben mit uns in unserem Alltag gut vorbereitet zu sein, sollten auch Hunde lernen dürfen, mit Frustration umzugehen. Eine Jugendzeit, in der einem Hund jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird, bereitet nicht auf das echte Leben vor, sondern nur auf ein Leben in einer Welt, in der einem jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird. Das Erlernen von Frustrationstoleranz ist somit ein wichtiger Bestandteil von Erziehung.
In meiner Wahrnehmung scheint es in Deutschland allerdings bei immer mehr Menschen im Umgang mit ihren Hunden nur darum zu gehen, sie zu beschäftigen und zu dressieren, ohne sie aber altersgerecht zu erziehen. Zunehmend stellt sich ein Ungleichgewicht zu Ungunsten der Erziehung ein. Verstärkt wird diese Entwicklung auch dadurch, dass viele Hundehalter:innen alles, was den Hund unter moderaten Stress setzt und unangenehme Gefühle hervorruft, als zunehmend ethisch nicht vertretbar und tierschutzrelevant ansehen. Diese Fehlentwicklung wird auch von Entscheidungsträger:innen befeuert, die durch immer strengere Regeln und Verordnungen einen Umgang mit dem Hund einfordern, der einer artgerechten und individuell angepassten Erziehung zuwiderläuft.
Die Folge einer mangelnden Erziehung sind leider oft Hunde, die kaum Frustrationstoleranz und Impulskontrolle haben. Nun gibt es Hunde, die aufgrund ihrer Persönlichkeit wenig in Frage stellen, wenig eigene (für uns unerwünschte) Ideen haben und einfach alles richtig machen möchten. Bei solchen Hundetypen ist die Erziehung vergleichsweise leicht. Es gibt aber auch andere Hundetypen, die ohne eine entsprechende Erziehung zu einer Gefahr für sich selbst, andere Hunde und Menschen werden können. Natürlich werden sich auch recht gut erzogene Hunde nicht immer perfekt verhalten. Auch sie werden in der Pubertät das ein oder andere in Frage stellen und ihre genetischen „Begabungen“ können jetzt stärker gezeigt werden. Aber sie haben durch eine individuell angepasste Erziehung frühzeitig eine gute Basis erhalten, auf die man aufbauen und mit der man gut weiterarbeiten kann. Fehlt jedoch die Erziehung, kann es schlussendlich dazu kommen, dass unerzogene Hunde bei entsprechender Möglichkeit beispielsweise ungehemmt Wild hetzen und vielleicht sogar verletzen, Radfahrer und Jogger hetzen oder unter Zuhilfenahme ihrer Zähne „ihr“ Futter, Grundstück und Spielzeug verteidigen.
Es gibt keine Garantie für ein erfolgreiches Anti-Jagdtraining, aber eine gute Erziehung ist eine ausgesprochen gute Basis.
Nicht selten werden genau solche Hunde dann als gefährlich eingestuft und landen in den bereits überfüllten Tierheimen. Dabei ist es so einfach, bereits Welpen von vornherein die Möglichkeit zu geben, Frustration zu ertragen, eine Impulskontrolle aufzubauen und zu lernen, unangenehme Gefühle einfach auch einmal auszuhalten. Durften Hunde das nicht von Anfang an lernen, wird es im Erwachsenenalter viel schwieriger sein, den Hund zumindest in seinen Problembereichen zu managen – Erziehung im eigentlichen Sinne ist dann häufig nicht mehr möglich.
Wie wird Frustrationstoleranz erlernt?
Wenn ein Welpe Frustrationstoleranz erwerben soll, muss er nach Wirtz (2020) die Fähigkeit erlernen, Frustration über einen längeren Zeitraum auszuhalten. Und zwar in dem Sinne, dass in der Lernsituation weder der Versuch gemacht wird, die Spannungen indirekt zu mildern, noch das Motiv auf ursprüngliche Weise zu befriedigen. Auf das Hundetraining übertragen bedeutet das beispielsweise, dass ein Hund in einer gewissen Distanz zu einem Würstchen steht oder sitzt, in der es ihm nicht möglich ist, an das Würstchen zu gelangen, sondern er die Situation aushalten muss. Frustrationstoleranz lässt sich hingegen nicht damit aufbauen, dass der Hund in dieser für ihn unangenehmen Situation andere Leckerlies bekommt, damit er die Situation vielleicht besser aushalten kann (und nicht so frustriert aussieht). Hat der Hund in einer Situation gelernt, Frustration ohne Leckerlies auszuhalten, hat er eine Frustrationstoleranz entwickelt, d.h. die Situation fühlt sich beim nächsten Mal deutlich weniger unangenehm an.
Leider ist es in der Praxis so, dass die Frustrationstoleranz nicht zwangsläufig von einer Situation auf eine andere übertragen wird. Das Erlernen in einer Situation kann aber immerhin das Erlernen in einer anderen Situation erleichtern. Der Effekt lässt sich steigern, wenn Frustrationstoleranz in mehreren unterschiedlichen Situationen erworben wird.
Je früher ein Hund lernen darf, Frust zu ertragen, desto leichter fällt es ihm. Versäumnisse im Welpenalter erschweren es nur, Frustrationstoleranz im Erwachsenenalter zu lernen.
Wie leicht es einem Hund fällt, Frustrationstoleranz zu erlernen, wird dabei von Faktoren wie Genetik, Persönlichkeit, bisherigen Lernerfahrungen und Tagesform beeinflusst. So erfahren Hunde, die keine bis wenig genetisch bedingte Ambitionen haben, einer jagdlichen Spur zu folgen, kaum Frustration, wenn sie solchen Spuren nicht folgen dürfen. Folglich müssen sie in diesem Bereich wenig bis keine Frustrationstoleranz lernen. Hunde jedoch, die für bestimmte Arbeiten gezüchtet worden sind, erfahren wahrscheinlich eine hohe Frustration, wenn sie an der Ausführung entsprechender Verhaltensweisen gehindert werden. Meiner Colliehündin z.B. fiel es leicht zu akzeptieren, dass ein Sprung in den Moorteich verboten ist, da sie Wasser nicht sonderlich mag. Für meinen Münsterländer hingegen war dasselbe Verbot zunächst allerdings deutlich frustrierender.
Bezüglich der Erziehung erscheint es daher sinnvoll, insbesondere in diesen genetisch zum Teil stark verankerten Verhaltensweisen, möglichst von Anfang an eine Frustrationstoleranz aufzubauen. Versäumt man dies, entwickelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Hund, der im späteren Leben z. B. bei jeder Gelegenheit in jedes Gewässer springt, womit er sich selbst in Gefahr bringen kann.
Ein weiterer Aspekt der Frustrationstoleranz ist es, an einer Aufgabe dranzubleiben, auch wenn Schwierigkeiten auftauchen oder ein Ziel nicht direkt zu erreichen ist. Das hängt mit dem sogenannten Belohnungsaufschub zusammen: eine hohe Frustrationstoleranz erleichtert es, einen Belohnungsaufschub abzuwarten. So kann es für einen engagierten Mantrailer (Personenspürhund) frustrierend sein, wenn er an einem geschlossenen Bahnübergang länger warten muss, bis er die Spur weiterverfolgen kann. Für meine Dackelhündin war es z. B. beim Mantrailen zu Beginn ziemlich frustrierend, erhöht versteckte Personen zu lokalisieren. Als Dackel sucht sie die Lösung lieber unterhalb der Erdoberfläche als oberhalb. Aufgrund ihrer hohen sowohl genetisch bedingten als auch schrittweise aufgebauten Frustrationstoleranz beim Mantrailen, bleibt sie mittlerweile minutenlang am Ball und schafft es jetzt auch, die Person z.B. auf einem hohen Spielgerüst schnell zu finden.
Frustrationstoleranz bedeutet also auch, mit einem Belohnungsaufschub oder nicht gleich abstellbaren Widrigkeiten situationsadäquat umzugehen und trotz konkurrierender Ziele in der Lage zu sein, sich auf ein Ziel zu konzentrieren.
Was ist Impulskontrolle?
Die Impulskontrolle stellt ebenso wie die Frustrationstoleranz einen Teilbereich der emotionalen Selbstregulation dar. Bei Kindern zeigen sich individuelle Unterschiede bezüglich dieser Selbstregulation in der genetischen Veranlagung, in der Effektivität die Aufmerksamkeit konzentrieren und verlagern zu können, sowie in der Unterdrückung von Impulse und unangenehmen Emotionen (Frustrationstoleranz) aushalten kann (Berk, 2011).
Eine Impulskontrolle liegt dann vor, wenn eine Impulshandlung unterdrückt werden kann. Unter einer Impulshandlung versteht man beim Menschen eine gefühlsbetonte, schnell ausgeführte Handlung, bei der zum Zeitpunkt der Ausführung die vernunftgemäße Ablehnung oder Zustimmung fehlt (Wirtz, 2020). Die Grundlage dafür ist eine Veranlagung zu schnellen, ungeplanten Reaktionen (Stüber & Roth, 2014). Dabei wird die aktive Impulsivität von der passiven unterschieden. Ein Hund, der z. B. seinen Menschen bei der Begrüßung stürmisch anspringt, weil er seine Freude nicht zügeln kann, zeigt sich aktiv impulsiv. Hingegen zeigt sich ein Hund passiv impulsiv, der sich von einem Menschen mit Hut bedroht fühlt und diesem aggressiv entgegenspringt oder vor ihm flüchtet.
In diesen beiden Fällen handelt es sich um eine schnelle Reaktion, die aufgrund angenehmer oder unangenehmer Situationen bzw. Reize ausgelöst werden kann. Die Impulshemmung oder Impulskontrolle kann man als Fähigkeit beschreiben, einem Impuls nicht unmittelbar nachzugeben.
Eine Impulskontrolle kann mittels positiver Bestrafung erlernt werden, wobei in der Regel eine bereits erworbene Frustrationstoleranz auch hier zu schnelleren Lernerfolgen führen kann. Wenn man versucht, einem Hund dauerhaft ein Verhalten über positive Belohnung beizubringen, das von der kritischen Situation lediglich ablenkt, ist dies in den meisten Fällen wenig erfolgsversprechend.
Im Rahmen der Kontrolle der passiven Impulsivität kommt es zudem noch auf Lernprozesse an, die sowohl die Gewöhnung (Habituation) an die als bedrohlich eingestuften Reize ermöglicht als auch den Umgang mit Stressoren erleichtert. So kann ein Hund lernen, sich an einen für ihn furchteinflößenden Reiz zu gewöhnen (Habituation, unbewusstes Lernen) und damit lernen, dem Impuls nicht zu folgen, vor diesem Reiz zu flüchten oder diesen zu vermeiden.
Eine gute Impulskontrolle rettet so manches Tier und ermöglicht unseren Hunden mehr Freiraum.
Wird ein Welpe von Beginn an von allen Stressoren ferngehalten, wie z. B. das Gehen auf unterschiedlichen Untergründen oder Laufen weniger Treppenstufen, dann ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass dieser Hund im weiteren Verlauf seiner Entwicklung eine unangemessene Furcht vor unbekannten Untergründen und Treppen entwickelt und infolgedessen dann massiven Stress erlebt. Hätte er von Anfang an verschiedene Untergründe und Treppen kennenlernen dürfen, hätte er als erwachsener Hund vermutlich deutlich weniger Stress und damit mehr Wohlbefinden. Und nicht nur das. Das Meistern von kleinen, adäquat stressigen Situationen im Welpen- und Junghundealter fördert den angemessenen Umgang mit anderen stressigen Situationen im Erwachsenenalter – der Hund erarbeitet sich damit eine höhere Resilienz. Hunde schon im Vorfeld von allen unangenehmen und stressigen Situationen fernzuhalten und alles für sie Unangenehme aus dem Weg zu schaffen, erinnert stark an den überbehütenden Erziehungsstil, der in der heutigen Kindererziehung immer öfter zu beobachten ist und stark in der wissenschaftlichen Kritik steht. Wenn Eltern aufgrund von Sicherheitsbedenken Kindern nicht ermöglichen, alterstypische Erfahrungen zu sammeln, zeigt sich, dass diese Kinder nachgewiesenermaßen eine geringere Frustrationstoleranz entwickeln und zudem Schwierigkeiten damit haben, mit Niederlagen, Schwierigkeiten und Hindernissen umzugehen, im Vergleich zu Kindern, die diese Erfahrungen machen durften (Maas, 2021). Untersuchungen zeigen zudem, dass durch die Überbehütung von Kindern die gleichen Verhaltensprobleme auftreten können wie bei einem vernachlässigenden Erziehungsstil. Als Folge davon treten vermehrt z. B. Übersensibilität gegenüber möglicher Stressoren, Zwangsstörungen und ADHS auf (Padtberg, 2013; Cro, 2023).
Welche Botenstoffe im Gehirn sind an der Impulskontrolle beteiligt?
Betrachtet man die an der Impulskontrolle beteiligten Botenstoffe im Gehirn, dann konnte nachgewiesen werden, dass ein generell höherer Serotoninspiegel Menschen dabei unterstützt, sich leichter und schneller mit gegebenen Situationen abzufinden. So zeigen Menschen mit einem generell höheren Serotoninspiegel eine verhältnismäßig starke Impulskontrolle, können Ziele dauerhaft verfolgen (Frustrationstoleranz), beachten Verhaltensregeln und lassen sich von aktuellen Geschehnissen weniger leicht ablenken. Dabei ist die aktive Impulsivität u. a. an ein unmittelbares Belohnungserleben gekoppelt und geht einher mit einem geringeren Serotoninspiegel und einem erhöhten Dopamin- und Testosteronspiegel. Hingegen ist die reaktive Impulsivität als Reaktion auf eine Bedrohung an niedrige Serotoninwerte, hohe Cortisol- und Noradrenalinwerte und der verminderten Fähigkeit bedrohliche Situationen/Reize von nicht bedrohlichen zu unterscheiden gekoppelt (Roth & Stüber, 2014).
Im Kontext der Impulskontrolle kann Serotonin folglich als Gegenspieler von Dopamin betrachtet werden: Serotonin beruhigt und hemmt die Impulsivität, wohingegen Dopamin die Impulsivität aktiviert und begünstigt. Bei Hunden ist hierzu bereits bekannt, dass spezielle Genvarianten des dopaminergen Systems mit verstärkt impulsiven Verhalten einhergehen können (z. B. bei der Rasse Malinois).
Wie kann man in der Erziehung das Erlernen der Impulskontrolle unterstützen?
Wenn wir unseren Welpen und Junghund erziehen möchten, dann müssen wir berücksichtigen, dass die aktuelle Impulskontrolle des Tiers durch Faktoren wie Genetik, Frustrationstoleranz, körperliche und emotionale Verfassung, den Umgang mit Stressoren, die Fähigkeit der Selbstberuhigung, die individuelle Bedeutung der zu unterdrückenden Handlung, bereits gemachte Lernerfahrungen, das Vorhandensein einer verlässlichen Bindungsfigur und letztendlich auch durch den situativen Kontext beeinflusst wird.
Soll ein junger Jagdhund z. B. lernen, den Impuls zu unterdrücken, einen plötzlich aufspringenden Hasen zu hetzen, und die sich daraufhin einstellende Frustration auszuhalten, muss das wiederholt an verschiedenen Orten in unterschiedlichen Kontexten und Schwierigkeitsgraden trainiert werden. Im Training muss dabei berücksichtigt werden, dass insbesondere beim Erlernen der Impulskontrolle wiederholtes, zeitlich kurz aufeinanderfolgendes Hemmen (durch positive Bestrafung) eines Impulses dazu führt, dass die Impulskontrolle schwieriger wird und die erlebte Frustration steigt. So kann es passieren, dass es einem Hund gelingt, bei drei nacheinander aufspringenden Hasen, den Impuls zu kontrollieren, beim 4. Hasen schafft er es aber nicht mehr und hetzt diesem hinterher.
Ein anderes Beispiel dafür ist ein Hund, der andere Hunde an der Leine anpöbelt. Bei 4 Hundebegegnungen kann er sich an seinem Menschen orientieren, beim 5. Hund schafft er es aber nicht mehr und pöbelt wieder. Wichtige Einflussfaktoren hierfür sind vor allem der individuelle Trainingsstand und die damit verknüpfte Konzentrationsfähigkeit des Hundes. Für die Praxis bedeutet das wie so oft, dass Hunde durch die Trainingseinheiten nicht überfordert werden dürfen und in kleinen, an die jeweiligen Hunde angepassten Übungsschritten trainiert werden müssen.
Warum finden diese wissenschaftlichen Erkenntnisse keine Berücksichtigung in der praktischen Arbeit mit Hunden?
Was Erziehung ist und wie wichtig die damit verbundene Frustrationstoleranz und Impulskontrolle für unsere Hunde sind, habe ich ausführlich dargelegt. Wie beschrieben sind daran zwangsläufig unlustvoll erlebte Zustände beim Hund gekoppelt.
Wenn Hunde Impulskontrolle lernen, sehen sie natürlich nicht glücklich aus, schließlich würden sie ihrem Impuls gerne nachgehen.
Dementsprechend sieht ein Hund nicht glücklich aus, wenn er etwas aushalten muss oder eine Impulshandlung durch positive Bestrafung gehemmt wird. Zeigt der Hund in so einem Kontext Frustration (Ärger, Wut) oder Demutsverhalten, wird das nicht selten als Angst fehlinterpretiert oder auch als eine Folge davon, dass sein Mensch zu viel Druck ausgeübt hat. Diese Fehleinschätzung, gekoppelt damit, dass Hundehalter:innen es häufig kaum aushalten können oder wollen, dass ihr Hund nicht glücklich aussieht und sich vielleicht nicht wohl fühlt, führt dazu, dass dieser so wichtige Teil der Hundeerziehung häufig unterlassen wird. Nicht selten kommt noch eine mangelnde Konfliktfähigkeit des Menschen hinzu, was übrigens auch ein typisches Merkmal von Eltern ist, die ihr Kind überbehütend erziehen (Maas, 2021).
Warum Hundehalter:innen vermehrt weniger konfliktfähig sind und weniger aushalten können, wenn ihr Hund nicht glücklich aussieht, wird viele individuelle und persönliche Gründe haben. Meiner Meinung nach könnte es daran liegen, dass viele Hundehalter:innen unwissentlich von vielen Seiten her mit mangelhaftem, teils verwirrendem und veraltetem biologischem Wissen bezüglich unserer Haushunde fehlinformiert werden.
So wird im Alltag einerseits gerne von negativen Emotionen (Angst, Wut, Langeweile, Trauer) gesprochen, die nicht erwünscht sind und andererseits von positiven Emotionen (Glück, Freude), die im besten Fall alleiniges Ziel einer Mensch-Hund-Interaktion sein müssten. Evolutionsbiologisch betrachtet gibt es aber zunächst einmal nur gute Emotionen, da sie uns und anderen Tieren helfen, sich in den jeweiligen Kontexten angepasst zu verhalten. Der angemessene Umgang mit Emotionen muss allerdings gelernt werden. Dies gelingt nur, wenn man entsprechenden Situationen im Rahmen des normalen Aufwachsens und der Erziehung auch ausgesetzt wird. Systematisches Unterbinden mutmaßlich „negativer“ Emotionen, wie sie beispielsweise beim Aufbau der Frustrationstoleranz ausgehalten werden müssen, ist in dieser Hinsicht nicht hilfreich.
Ergebnisse der Emotionsforschung belegen deutlich, dass es ohne Unwohlsein auch kein Wohlgefühl gibt. So sollte z.B. ein Welpe im Kontakt mit anderen Hunden lernen, nicht direkt aus Wut heraus nach vorne zu gehen, sondern persönliche Grenzen möglichst fein abgestuft zu kommunizieren und sich auch mal zurückzunehmen. Ebenso sollten sie lernen, in unbekannten Situationen nicht aus Unsicherheit um sich zu schnappen oder zu flüchten, Menschen nicht aus Freude oder Ungeduld anzuspringen, bei der tierärztlichen Untersuchung und Behandlung still zu halten und nicht unkontrolliert aus Lust zu jagen – Umgang mit Emotionen zu lernen geht also einher mit Erlernen der Frustrationstoleranz und Impulshemmung!
Weitere veraltete Ansätze finden sich im Bereich der Lerntheorie, die sich leider aber immer noch hartnäckig halten. In diesen Ansätzen wird die Wichtigkeit der Mensch-Hund-Beziehung (der Mensch ist die sichere Basis für den Hund) nicht berücksichtigt und Hunde werden noch immer unter dem veralteten Paradigma des Behaviorismus gesehen. Diese veraltete Sichtweise betrachtet Hunde und andere Tiere als „Reiz-Reaktions-Maschinen“, wobei die individuelle Genetik, die individuelle Motivation und die Persönlichkeit des Tieres unberücksichtigt bleibt. Unter diesem Paradigma ist es quasi egal, ob man ein Kaninchen, einen Papagei, ein Chinchilla oder einen Hund als Haustier hält. Die Beziehung zwischen Tier und Mensch, die Einfluss auf den Lernerfolg haben kann, wird im einfachen Behaviorismus nicht in Betracht gezogen. Diese Sichtweise entstammt einer Zeit, in der damit begonnen wurde, Lernforschung an Tieren systematisch zu betreiben (um 1900). Insofern schien das Modell einer „Reiz-Reaktions-Maschine“ erst einmal sinnvoll, da man zu dieser Zeit noch keine anderen wissenschaftlichen Möglichkeiten und Erkenntnisse hatte. Es war damals also vernünftig, zunächst einmal unter diesem Paradigma zu forschen. Und einige Erkenntnisse aus dieser Zeit stimmen auch heute noch mit modernen Sichtweisen überein, wenn auch nicht mehr in der ursprünglich formulierten Absolutheit. Beispielsweise haben Lernprozesse wie die operante und klassische Konditionierung (s. CANIS-Artikel "Belohnung und Bestrafung") auch heute noch ihre Gültigkeit, doch sind mittlerweile weitere Lernprozesse bekannt, vor allem mehr Faktoren, die Lernprozesse entscheidend mit beeinflussen.
Veraltete Konzepte führen Verhalten lediglich auf entsprechende Lernprozesse zurück – heute weiß man, dass Verhalten durch viele Faktoren bestimmt wird, nicht nur durch Lernprozesse wie bei einer Reiz-Reaktionsmaschine.
Für die meisten Hunde ist unsere ehrliche Freude die effektivste und nachhaltigste Belohnung – und zum Glück haben wir diese immer dabei ...
So weiß man heute, dass eine vertrauensvolle, sichere Mensch-Hund-Beziehung für ein erfolgreiches Training eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Meiner Meinung nach bildet sie sogar die Basis für eine erfolgreiche Erziehung und ein erfolgreiches Training. So konnte wiederholt gezeigt werden, dass das Stressempfinden von Hunden, die sich sicher an ihren Menschen binden, geringer ist und sie in Anwesenheit ihres Menschen weniger gestresst reagieren. Ebenso konnte mehrfach nachgewiesen werden, dass im Rahmen von Belohnungen die soziale Belohnung (loben, streicheln) bei den meisten Hunden wirksamer ist als Futterbelohnung (Feuerbacher & Wynne (2017).
Vermutlich spielen u. a. die angesprochenen veralteten Ansätze bezüglich Emotionen und Lernprozessen dann eine Rolle, wenn manche Hundehalter:innen, Trainer:innen und Entscheidungsträger:innen darauf bestehen, dass es ethisch überhaupt nicht vertretbar sei, einen Hund kurzzeitig unangenehmen Gefühlen und unangenehmen Stress auszusetzen, auch dann nicht, wenn das der Erziehung im autoritativen Sinne dient. Einige gehen sogar so weit zu fordern, dass selbst leichte körpersprachliche Bedrohungen vom Menschen (ein Beispiel wäre das geringe Vorbeugen des Oberkörpers, um unerwünschtes Verhalten zu unterbinden), zu unterlassen seien. Es scheint sogar eine Tendenz zu geben, dass ein Mensch kein klares „nein“ mehr zu einem Hund sagen darf. Begründet werden diese Aussagen damit, dass der Hund sich gerade nicht wohl fühlt, infolgedessen Angst vor seinen Menschen entwickeln könnte hätte, in die erlernte Hilflosigkeit fallen würde oder sogar eine Traumatisierung erfahren würde. Wie oben beschrieben, gehört es zum ganz normalen Leben („normal life events“) und zu ganz gewöhnlichen und wichtigen Lernerfahrungen dazu, dass man sich mal nicht wohl fühlt. Und ja, das macht mir als Halterin und Trainerin auch nicht immer Spaß, genauso wenig wie es Eltern nicht immer Freude macht, ihren Kindern Grenzen zu setzen und angemessenes Benehmen zu vermitteln. Und ja, in Einzelfällen resultiert der Erziehungsversuch nicht in dem erwünschten Verhalten. Das passiert in der Hundeerziehung dann, wenn die Mensch-Hund-Beziehung nicht verlässlich ist, der Kontext keine geeignete Lernsituation für den Hund darstellt, die Einwirkung zu intensiv oder auch nicht an das Gegenüber angepasst ist. Aber ist es denn deswegen dem sozialen Hund gegenüber richtig, diesen wichtigen Teil der Erziehung zu unterlassen oder gar generell zu verbieten? Darf man jegliche sinnvolle Einwirkung, inklusive das Erlernen von Frustrationstoleranz und Impulskontrolle unterlassen oder gar verbieten, nur weil es schwarze Schafe unter Hundetrainer:innen und Halter:innen gibt, die immer noch nach dem autoritären Erziehungsstil erziehen und trainieren?
Wie so oft ist auch hier die goldene Mitte der Weg, den es zu beschreiten gilt – extreme Forderungen nach einem generellen Verbot von positiver Bestrafung scheinen in den seltensten Fällen angemessen und richtig. Gute und erfolgreiche Erziehung sollte zum Ziel haben, den zu Erziehenden souverän und angepasst auf sein weiteres Leben vorzubereiten – es geht hierbei um einen langfristigen und nachhaltigen Effekt und nicht um einen kurzfristigen. Es darf meiner Meinung nach nicht sein, dass durch Lobbyarbeit eigene Trainingsansätze durchgesetzt werden, die biologisch und lerntheoretisch nicht begründbar sind und schlussendlich dazu führen, dass Hunde nicht adäquat erzogen werden, wodurch sowohl der Hund als auch der Mensch unnötige Probleme bekommt und sich beide weniger wohl fühlen.
Dabei sind für uns Menschen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche, artgerechte Erziehung von Haushunden doch recht gut: So ist die Möglichkeit der recht fein abgestuften Kommunikation zwischen Mensch und Hund eine gute Möglichkeit individuelle Beziehungen aufzubauen. In einem Sozialverband, den wir mit unseren Hunden fast zwangsläufig bilden, ist es nur fair, klar zu kommunizieren, was erwünscht und nicht erwünscht ist, damit für alle Beteiligten klar ist, was für das gemeinsame Miteinander wichtig ist . Und ich wiederhole es noch einmal: Dazu gehört auch, Frustration zu ertragen und seine Impulse zu kontrollieren. Gibt man Hunden die Chance, dies zu lernen, leben sie ein hundegerechtes Leben. Sie können im Freilauf laufen, schnuppern und in individuell abgesteckten Grenzen einfach einmal Hund sein. Ich persönlich finde es traurig, dass so viele Hunde ausschließlich an der Leine laufen oder im Freilauf durch permanente Ansprache und kleine Übungen kontrolliert werden müssen. Auf diese Weise bleibt ihnen nur noch übrig, sich wie kleine programmierte Roboter zu verhalten . Wo bleibt bei dem Ganzen das Vertrauen in den eigenen Hund und die eigene Erziehung?
Plädoyer für eine ausgewogene, individuelle und hundegerechte Erziehung
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass unsere Haushunde, die uns als Sozialpartner:innen sehen und sichere Beziehungen mit uns eingehen können, im Rahmen einer wohlwollenden autoritativen Erziehung Frustrationstoleranz durch schlichtes Aushalten frustrierender Situationen und eine Hemmung von Impulsverhalten lernen können und auch müssen. Damit wird die Wahrscheinlichkeit verringert, dass sie später durch unerwünschte Verhaltensweisen wie unangemessenes Aggressionsverhalten gegenüber Menschen und Hunden, unangemessenes Angstverhalten oder unangemessenes Jagdverhalten auffällig werden.
Viele verhaltensauffällige Hunde sind schlicht weg selbst gemacht. Durch eine hundegerechte Welpen- und Junghundeerziehung ließe sich viel Leid bei Hund und Mensch vermeiden. Die Erziehung eines Hundes fordert zwar den Menschen in einigen Momenten, manchmal auch enorm, verspricht aber auf lange Sicht ein besseres, vertrauensvolleres und entspannteres Miteinander.
Wir tun unseren Hunden keinen Gefallen, wenn wir sie vor allen unangenehmen Gefühlen und Situationen schützen wollen. Ganz im Gegenteil, denn wir verhindern damit, dass sie schon von klein an lernen, auch mit diesem Teil des normalen Lebens umzugehen und sich auch einmal nicht ihren Bedürfnissen entsprechend zu verhalten – genau wie die meisten von uns es in geeigneten Situationen in unserer Kindheit und Jugend lernen durften und nun als Erwachsene in der Lage sind, eigene Bedürfnisse zurückzustellen.
Sicherlich ist es gut gemeint und auch richtig, Trainingsmethoden und -hilfsmittel zu verbieten, wenn sie Hunde nachhaltig schädigen oder Schmerzen und Leid zufügen. Aber unreflektiert und generell alles zu verbieten ist nicht gut gemacht. Schließlich ist nicht die Methode oder das Hilfsmittel per se in den meisten Fällen problematisch, sondern vielmehr, in welcher Situation oder welcher Intensität und zu welchem Zweck sie angewendet werden.
Ein letztes Beispiel: So ist für mich Hundeboxentraining für Welpen und erwachsene Hunde nicht tierschutzrelevant, wenn es angepasst an den Entwicklungsstand und der Lernfortschritt Schritt für Schritt aufgebaut wird. Welpen und erwachsene Hunde lernen die Box als Rückzugsort zu schätzen und haben dann auch kein Problem damit, mal länger als eine halbe Stunde in einer geschlossenen Box zu verbringen. Schafft es ein Welpe oder Junghund von sich aus nicht, zur Ruhe zu kommen – was für eine gesunde Entwicklung unerlässlich ist – hilft es in den meisten Fällen, den Hund in die Box zu bringen, wo der Hund ruhen kann. Ebenso können Hunde, die das Trainung vernünftig aufgebaut gelernt haben, auch Zeit im parkenden Auto verbringen und dort entspannen und ausruhen, bevor es z. B. in den Einsatz oder zum Suchtraining geht. Problematisch und tierschutzrelevant wird die Hundebox jedoch dann, wenn sie nicht gut eingearbeitet wurde und Menschen der Meinung sind, einen Welpen ohne vorheriges Training über Stunden in einer geschlossenen Box unterzubringen, wenn sie anderweitig beschäftigt sind. Hier liegt das Problem aber nicht daran, dass der Aufenthalt des Hundes in einer geschlossenen Hundebox generell tierschutzrelevant ist, sondern dass Menschen Fehler machen.
Wenn wir alles verbieten, womit man vielleicht einen Fehler machen kann, müsste auch das Brustgeschirr oder die Arbeit mit dem Clicker für Hunde verboten werden, genauso wie für uns Menschen Autofahren, Kerzen, Herdplatten, Scheren, Pappbecher mit heißen Getränken, ... Wir wissen, dass in unserer Gesellschaft Tendenzen bestehen, sämtliche Risiken für das Leben minimieren zu wollen. Es liegt in der Natur des Menschen, sich selbst schützen zu wollen und Gefahren zu vermeiden, doch macht dies das Leben weniger lebenswert.
Hundeboxen sind, gut aufgebaut, ein Ort der Entspannung und Ruhe für Hunde. Ihre Nutzung außerhalb des Transports zu verbieten, weil einige wenige Menschen sie nicht gut eintrainiert haben, ist vergleichbar damit, das Autofahren verbieten zu wollen, weil es immer wieder zu Unfällen kommt.
Ist es nicht viel vorausschauender und fairer, Hunde bereits im Welpenalter mit kurzen, unangenehmen, aber gut zu verarbeitenden Lernsituationen zu konfrontieren, als sie später nur noch managen zu können oder sie, wenn es dann gar nicht klappt, sogar abgeben oder einschläfern zu müssen?
Aus meiner Sicht läuft gerade einiges schief in der Hunderziehung, wenn es um das Wohlergehen und die Bedürfnisse unserer Hunde geht. Manchmal habe ich den Eindruck, dass gerade an entsprechenden Stellen Entscheidungsträger:innen sitzen, die die Biologie der Hunde außer Acht lassen und dadurch versucht sind, Maßnahmen durchzusetzen, die zwar im Grunde gut gemeint sind, aber auf lange Sicht, wie oben beschrieben, genau das Gegenteil bewirken werden.
Viele gutgemeinte Regelungen bezüglich des Umganges mit unseren Haushunden sind nicht zu Ende gedacht und sprechen Menschen die Fähigkeit ab, das eigene Denken und Handeln zu reflektieren. Statt unsere Hunde durch eine wohlwollende Erziehung zu stärken, schwächen wir sie, indem wir alles aus dem Weg räumen, was sich für sie kurz unangenehm anfühlen könnte.
Damit wird in Kauf genommen,
Sind diese möglichen Konsequenzen im Sinne des Tierschutzgesetzes? Wollen wir das wirklich für unsere Hunde? Ich plädiere für eine maßvolle „goldene Mitte“, um uns, Mensch und Hund, die wunderbare Erfahrung zu ermöglichen, einen Teil des Lebens gemeinsam mit Vertrauen, Fairness und einzigartigen Momenten zu verbringen, einfach eine wunderschöne Zeit zusammen zu leben. Das ist auf Basis einer verlässlichen Beziehung, individuell angepasster und wohlwollender Erziehung möglich!
Zum Weiterlesen:
Dr. rer. nat. Iris Mackensen-Friedrichs studierte Biologie und Chemie für das höhere Lehramt in Göttingen und promovierte im Anschluss an das Referendariat. Seit 2008 ist sie CANIS-Absolventin. Sie führt ihre eigene Hundeschule Canicoach in der Nähe von Kiel mit dem Schwerpunkt auf Verhaltensberatung und Mantrailing. Bei CANIS-Zentrum für Kynologie ist sie für die wissenschaftliche Leitung sowie als Dozentin u.a. für die Bereiche Zucht und Genetik, Verhaltenstherapie, Lernverhalten und Körpersprache des Hundes zuständig.
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